Vom Wesen und Aufgabe der Spielekritik

Vorbemerkung

Ich habe die letzten 15 Jahre Spielejournalismus-technisch unter einem Stein namens 4players gelebt. Das ganze ist daher auch ein wenig eine Hommage an das untergegangene 4PLayers. Jörg, Michael, Ben, Alice, Matthias, Eike & Co.
Zum Verständnis eines billigen Witzes hilft es vielleicht auch noch zu wissen: der größte Fehler der gesamten 4players Historie war aus meiner Sicht, dass 2018 dort das sehr gute aber nicht brillante „Frostpunk“ vor dem absolut brillanten „Into The Breach“ PC-Spiel des Jahres 2018 geworden ist…

Der Text besteht zu großen Teilen aus Zitaten (kursiv). Ich habe mir allerdings den Spaß gemacht einige Wörter zu ersetzen [dann in eckigen Klammern], um den Gaming-Bezug herzustellen „Buch“ durch „Spiel“, „lesen“ durch „spielen“, „Literatur“ durch „Spieleindustrie“, „Verleger“ durch „Publisher“ und „Thomas Bernhard“ durch „Dark Souls“ (letzteres wg. düsterer Grundstimmung mit gelegentlich brüllend komischen Momenten…).

Erwartung der Spieler

Direkt am Anfang ein Reich Ranicki Zitat, das aus Konsumentensicht eigentlich schon alles sagt:

„Ich erwarte, dass ich nicht gelangweilt werde. Das ist mein Hauptverhältnis zu [Spielen]“

Das ist doch schonmal schön: wenn es einen langweilt, dann ist es doof. Das ist Schuld des Spiels, nicht Schuld von einem selbst. Und man kann sich auf Reich Ranicki berufen.

Literaturkritik und Spielekritik

Für den Spieler ist die Sache also klar. Aber was macht Spielekritik dann?

Eigentlich ist es relativ einfach: Spielekritik beschäftigt sich mit der Bewertung von Kulturgütern, konkret Spielen. Damit ist sie letztlich dasselbe wie Film- oder Literaturkritik, nur halt für Spiele. Die folgenden Zitate entstammen dem Essay „Über Literaturkritik“, von Reich-Ranicki, dass als Einführung in seinem Buch „lauter Verrisse“ stand und 2002 nachgedruckt wurde (Amazon hier)

Es beginnt mit der Betrachtung warum „Kritik“ einen so schlechten Ruf hat.

Wer sich über die Arbeit anderer öffentlich äußert und nicht alles schön und gut findet, bereitet manchen Schadenfreude, setzt sich aber sofort dem Verdacht aus, er sei ein hämischer Kerl, dem es Spaß mache, seinen Mitmenschen am Zeug zu flicken.
Kritik, welchen Bereichen des Lebens sie auch gelten mag, ruft meistens Zweifel an ihrer Berechtigung zugleich die Frage hervor, was denn den Kritisierenden, gerade ihn, befuge, über die Leistungen anderer zu urteilen.

Insbesondere mit Deutschlands Historie zum Obrigkeitsstaat hatte die Kritik keinen leichten Stand:

Immer noch ist das Verhältnis vieler Deutschen zur Kritik in hohem Maße gestört

Die deutsche Sprache machte es lustigerweise nicht besser:

Denn im Gegensatz zu den wichtigeren europäischen Sprachen bedeutet das Wort „kritisieren“ meist nicht soviel wie unterscheiden, prüfen, analysieren, werten oder beurteilen, sondern hat einen eindeutig pejorativen Sinn… In Dudens „Vergleichendem Synonymwörterbuch“ findet sich unter „kritisieren“ lediglich ein Hinweis auf das Stichwort „bemängeln“ und Dudens „Fremdwörterbuch“ erklärt das Verbum „kritisieren“ mit drei anderen Verben; sie lauten: „beanstanden, bemängeln, tadeln“.

Fun fact:

Es entstand eine einigermaßen groteske Situation: im Land, dessen hervorragendster Philosoph das Wort „Kritik“ schon in den Titeln seiner Hauptwerke verwendete, wurde die kritische Einstellung allen Ernstes und mit Erfolg als undeutsch, als etwas fremdartiges diffamiert.

(Anm. des Verfassers: Cooler Punkt, aber wer Kants Schwurbelsprache in den „Kritik der …“ Werken jemals erdulden musste, hat aber das unbedingte Recht, das Ganze „fremdartig“ bis bekloppt zu finden. Es gilt Karl Poppers Anforderung an Wissenschaftler: "Wer’s nicht einfach und klar sagen kann, der soll schweigen und weiterarbeiten, bis er’s klar sagen kann")

Dann folgen eine Historische Abhandlungen über die Anfänge der deutschen Literaturkritik. Und zwar bei Lessing, die dieser ulkigerweise in einer Zeitungs-Monatsbeilage mit dem schönen Namen "Das neuste aus dem Reich des Witzes" veröffentlichte. („Witz“ wurde damals allerdings im Sinne von „Esprit“ gebraucht)

Kritik wurde von Anfang an kritisiert, besonders natürlich von den kritisierten. Insbesondere war es schwer den Menschen klarzumachen, was die Aufgabe von negativer Kritik („Negation“) ist:

Sie soll die Nichtkönner abschrecken, die Mittelmäßigen zu Bedeutenderem nötigen, die Großen warnen und, vor allem, die [Spieler] bilden. „Einem Menschen von gesundem Verstande, wenn man ihm Geschmack beibringen will, braucht man es nur auseinander zu setzen, warum ihm etwas nicht gefallen hat“. (Ankündigung der Hamburgischen Dramaturgie)

(Anm. des Verfassers: Fettdruck von mir, Hamburgische Dramaturgie ist eine Textsammlung von Lessing, die wesentlich die dt. Literaturkritik mitbegründete. Ich schlage daher vor, bei guter Spielekritik zukünftig von „neue Hamburgische Dramaturgie“ sprechen. So wie bei „neuer Frankfurter Schule“ und zu Ehren aller herausragender Hamburger Spielekritiker mit und ohne Bart)

Kritik und Kritisierte

Jetzt folgt ein bisschen historische Abhandlung über Künstler und ihre Meinung zu Kritikern. (inkl. des üblichen Goethe Zitats: „Schlagt ihn tot den Hund! Es ist ein Rezensent“)

Selbst den Künstlern fiel aber auf, dass allgemein in der Kritik zu viel gelobt wurde. Und das das nicht unbedingt zu besserer Literatur führt.

1931 meine Tucholsky: "Die Herren Tadler sind noch Lichtblicke in der Spieleindustrie. Aber die Hudler des Lobes…Ich habe mich oft gefragt, was denn diese Leute bewegen mag, jeden Quark mit dem Prädikat ‚bestes [Spiel] der letzten siebundfünfzig Jahre auszuzeichnen‘"

(Anm. des Verfassers: Tucholsky bezog sich auf Frostpunk…)

Eine weitere folgende Erkenntnis ist dann, das Kritik sich nicht nur auf das konkrete jeweilige Spiel bezieht, sondern immer darüber hinausgeht:

Jede Kritik, die es verdient, eine Kritik genannt zu werden, ist auch eine Polemik. Sie bezieht sich immer auf einen konkreten Gegenstand -[aber] nie auf diesen Gegenstand allein.
Indem der Kritiker ein [Spiel] charakterisiert, indem er es befürwortet oder zurückweist, spricht er sich nicht nur für oder gegen einen [Spieleentwickler] aus, sondern zugleich für oder gegen eine [Spielweise] und Attitüde, eine Richtung oder Tendenz in der [Spieleindustrie]. Er sieht also das [Spiel], das er behandelt, immer in einem bestimmten Zusammenhang. Er wertet es als Symptom.

Anders gesagt:

Gerade in den radikalen Urteilen eines Kritikers („radikal sein ist die Sache an der Wurzel fassen“ heißt es bei Marx), da, wo er die enthusiastische Zustimmung oder die Entschiedene Ablehnung für erforderlich hält, sind in der Regel seine zentralen Bekenntnisse zu finden:
Ob Hymnen oder Verrisse, stets handelt es sich darum, im Extremen das Exemplarische zu erkunden und zu zeigen.

Radikal muss der Kritiker also sein, auch auf Kosten seines Rufes:

Aber zu diesem Zweck muss [der Kritiker] das Negative so klar und exakt wie möglich aussprechen können und dürfen. Deutlichkeit heißt das große Ziel der Kritik…
Schwierig sei es (ich glaube es war Bernard Shaw der das bemerkt hat), ein Kritiker und zugleich ein Gentleman zu sein.

(Anm. des Verfassers: Ben ist natürlich eine Ausnahme)

Wirkung der Kritik

Was bewirkt eine schlechte Kritik dann, was sind die Auswirkungen? Auch das lässt sich gut übertragen:

Auf jeden Fall empfiehlt es sich, den direkten Einfluß der Kritik auf den Erfolg oder den Mißerfolg, zumal den kommerziellen einzelner [Spiele] nicht zu überschätzen

und weiter:

Gern und oft beschuldigt man die Kritiker des Mordes an [Spielen]. Doch sollte man sich hüten für Mörder jene zu halten, zu deren Pflichten es gehört. Epidemien zu diagnostizieren [d.h.: Lootboxen] und Totenscheine auszustellen [d.h.: für Open World Abenteuer].
Aber Bestseller zu managen oder zu verhindern, ist nicht Sache der Kritiker - das liegt in der Kompetenz der [Publisher] -, Kritiker können nur Erkenntnisprozesse und Entwicklungen anregen und einleiten, begünstigen und beschleunigen und freilich auch hemmen.

Aufgabe der Kritik

Kritik hat auf den kommerziellen Erfolg also keine gar so große Auswirkung. Stellt sich die Frage: was soll das ganze dann?
Dazu gibt es bei literaturkritik.de eine schöne Beschreibung, die auch Reich Ranicki zitiert. Dort heißt es:

Ebenfalls in der Tradition der Aufklärung hat Reich-Ranicki immer wieder die pädagogischen Aufgaben der Kritik hervorgehoben und sich selbst als Lehrer und Erzieher begriffen. Es sei allerdings nicht der [Spieleentwickler], der zu erziehen sei, sondern der [Spieler]. [Spieleentwickler] seien in ihrer Eigenwilligkeit erziehungsresistent – zumindest die besseren unter ihnen. „[Spieleentwickler] lassen sich nicht erziehen. Und wenn sie sich erziehen lassen, dann lohnt es sich nicht.“

Stattdessen, und das ist meines Erachtens die zentrale Erkenntnis, ist es die primäre Aufgabe der Spielekritik, den Horizont des Spielers zu erweitern, ihn zu „bilden“ (oben bei der Hamburger Dramaturgie fett markiert), und ihn somit dazu zu bewegen bessere Spiele wertzuschätzen. Hier dazu das schöne Reich-Ranicki Zitat von literaturkritik.de:

„Was ich wollte und weiterhin will, ist doch ganz einfach. Ich möchte die [Spieler] dazu bringen, dass sie [Dark Souls] mit Vergnügen spielen, dass den Leuten diese [Spiele] so viel Spaß machen wie mir“.

'nuff said

Danke 4players!

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der Reich Ranicki der Spiele muss wohl erst geboren werden.

Früher dachte ich mal Benjamin Maack hätte das Zeug zum Reich Ranicki der Spiele, nur halt in nett.

Bezüglich Critical Theory auf Games angewandt (ja, im Englischen hat das nichts negatives), kennt Ihr dieses faszinierende Buch „Gamer Theory“ von McKenzie Wark?

Das hat mich damals als es neu war sehr zum Denken angeregt.

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Ein neuer hätte es heute aber glaube ich auch schwer. Die Blütezeit der Spiele-Printpresse wäre wohl die beste Zeit gewesen zum Großkritiker aufzusteigen. Einfach weil da wenige große Publikationen noch sehr Meinungsbildend waren. Heute gehen im Zweifelsfalle auch mittelgoße Schittstorm an einem vorbei, wenn man nicht gerade Twitter-Junkie ist. (und das ist natürlich erstmal begrüßenswert)

My bad. wie gesagt, ich habe das letzte Jahrzehnt unter einem Stein gelebt. (Aber auch nicht allzuviel Zeit zum Spielen). Da ist echt viel entgangen: Benjamin Maack kenne ich nur als Spiegel Autor, der mit Bettwanzen kämpft und eine zeitlang auf Zucker verzichtet. Gamer Theory ist gekauft, vielen Dank für den Tipp!

Ich wurde diesbezüglich erst letztes Jahr zum Denken angeregt, als ich mir neue Spiele Review Seiten suchen musste. Und erst da ist mir irgendwie klargeworden, wie sehr ich gute Reviews mag. Selbst für Spiele die nicht spielen werde (Beispiele: Returnal oder TLOU2. Weil: Ich hab/will keine Playstation).

Das ging so weit, dass ich mir irgendwann letzten November Chorus gekauft habe, es aber nicht spielen wollte, bevor ich nicht einen Test von Ben (Schmädig) dazu gelesen habe. Weil der alle Spiele die ich in diese Richtung in den letzten 10 Jahren gespielt habe getestet hatte. Merkwürdige Situation: ich hatte das Spiel ja schon gekauft und bin durchaus in der Lage mir eine eigene Meinung zu bilden. (Happy End dieser Anekdote: ich hab das in Jörg Luibl’s Spielvertiefung.de erzählt, und Jörg hat Ben dann tatsächlich zu einer Gast-Rezensions überredet. Snief.)

Jedenfalls hab ich aus diesem Anlass ein wenig über Sinn und Aufgaben der Kritik recherchiert, und zu Literaturkritik gab’s einfach das meiste Material. So ist der Text entstanden. Und dann war ich verblüfft, wie gut sich das von Büchern auf Spiele übertragen lässt. (Eigentlich aber nicht verwunderlich wenn man auch nur 3s drüber nachdenkt.)

Key findings:

  • Kritik hat letztlich keine Auswirkung auf den Kommerziellen Erfolg
  • (gute) Kritik kritisiert nicht nur den einzelnen Gegenstand (das jeweilige Spiel/Buch) sondern sieht darin immer ein Beispiel um allgemeinere Aussagen machen zu können. Und schließlich
  • Kritik richtet sich an die Spieler, nicht an die Produzenten. Aufgabe der Kritik ist es vor allem das Spieler bessere Spiele geil finden.


Edit: und die Möglichkeit einen Satz wie „Tuckolsky bezog sich auf Frostpunk“ schreiben zu können hat mich natürlich mit wunderbar infantiler Begesiterung erfüllt. Grüße an @IgnazWrobel

Ich finde eigentlich persönlich positive Spielekritik am schönsten. Es ist meiner Meinung nach toll, wenn ein/e Autor/in seine/ihre Begeisterung beschreibt und die Details im Spiel, die ihm/ihr wichtig erscheinen. Dann kann man als Leser/in mit einmal selber diese Details entdecken und wertschätzen, die man vielleicht sonst gar nicht bemerkt hätte.

Ein/e Kritiker/in kann als Experte/Expertin interessante Vergleiche zur Spielegeschichte ziehen, wie das bei Filmkritik auch oft gemacht wird, wenn bestimmte Einstellungen in modernen Filmen zum Beispiel mit Klassikern von Kurasawa, Hitchcock oder Lang verglichen werden. Dadurch kann man sich als Leser/in mit diesen Sachen auseinandersetzen und die eigene Erfahrung wird dadurch bereichert.

Was ich persönlich gar nicht mag, sind Verrisse oder dieses kindische sich über Spiele lustig machen. Das ist aber nur mein Geschmack. Andere finden das bestimmt toll, aber für mich ist das nix.

Das fand ich bei Benjamin Maack damals bei Gee und beim Gee Podcast so toll: Er hat eigentlich nichts schlechtes über die Spiele gesagt, sondern eher sowas wie „Also eigentlich wollte ich ja heute über Spiel XYZ reden, aber was ich eigentlich gespielt habe war Candy Crush…“ und dann redet er halt darüber, wie toll doch Candy Crush ist, statt über Spiel XYZ herzuziehen. Ein/e Lehrer/in würde wahrscheinlich sagen „Thema verfehlt“ aber mir hat diese Herangehensweise gefallen.

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